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Warum Netto (ohne Hund) Teilzeit-Veganer wird und Lidl Aktions-Bio testet

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Klaus Gehrig ist Chef der Neckarsulmer Schwarz-Gruppe, also Herrscher über Lidl- und Kaufland, und hat Sie und mich, uns beide, der Lüge bezichtigt! Naja, mindestens der Flunkerei. Anfang Juni sagte Gehrig im Interview mit der “Lebensmittel Zeitung”:

“Der Kunde redet anders als er handelt. Das sieht man ganz klar bei den Bio-Produkten. Natürlich wächst dieser Bereich, aber gering.”

Will heißen: Alle beteuern immerzu, Bio kaufen zu wollen, aber wenn der konventionelle Käse in der Kühltheke nebendran ein paar Ocken weniger kostet, lassen Sie die Bio-Produkte halt doch links liegen!

Trotzdem wird Bio nicht mehrheitlich im Bioladen oder beim Bauern direkt gekauft, sondern im Supermarkt und beim Discounter. Berechnungen des Arbeitskreises Biomarkt zufolge erzielte der klassische Handel im vergangenen Jahr (2015) 53 Prozent der Umsätze mit Bio-Lebensmitteln in Deutschland. Die Discounter mussten 1 Prozent Bio-Marktanteil abgeben (siehe BÖLW-Jahresbericht 2015, S. 15; pdf). Das passt zu dem, was Gehrig sagt.

Nicht so gut dazu passt die Strategie von Lidl: Zweieinhalb Wochen nach dem Interview räumte der Discounter Platz in seinen Läden und vier Seiten im Werbeprospekt frei, um “Jetzt noch mehr Bio” zu bewerben.

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“Sind wir nicht alle ein bisschen Bio?”,

fragte Lidl gut gelaunt und präsentierte darunter: Bio-Feta, Bio-Tortelloni, Bio-Leberwurst, Bio-Leinöl, Bio-Salzstangen, Bio-Agavendicksaft usw. Das war zugleich eine hübsche Demonstration der neuen Bio-Markenstrategie des Discounters, die vorsieht, ökologisch hergestellte Lebensmittel unter den bekannten Lidl-Eigenmarkennamen zu verkaufen (also z.B.: Milbona, Chef Select, Crusti Croc, Solevita) und dazu ein selbst entworfenes “BiO Organic”-Logo auf die Packung zu drucken. Seine ehemalige Bio-Dachmarke “Biotrend” hat Lidl aussortiert.

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Die entscheidende Information stand bei vielen der abgebildeten Produkte allerdings über den Preisen: “Für kurze Zeit”.

Discount-Nischen für Vielausgeber

Anstatt permanent alle Produkte verfügbar zu haben (und zu riskieren, dass sie länger liegenbleiben), hat Lidl sein erweitertes Bio-Sortiment kurzerhand in eine Aktionswoche ausgelagert. Ähnlich wie die Deluxe-Produkte, die es stets vor Weihnachten und Ostern gibt. So lässt sich im Zweifel testen, welche Produkte besonders gut ankommen, um sie eventuell doch dauerhaft ins Bio-Angebot aufzunehmen.

Aber heißt das nicht, der Klaus Gehrig redet anders als er handelt? Oder warum macht sich Lidl überhaupt die Mühe, wenn doch so wenige Kunden Bio kaufen, wie Gehrig meint?

Den Grund hat Lidl-Chef Sven Seidel im selben Interview genannt: Ein Bio-Käufer ist für den Discounter nämlich trotzdem “ein guter Kunde, denn er kauft etwas mehr und höherpreisiger”. Anders gesagt: Bio-Käufer sind vielleicht in der Minderheit, mit dieser Minderheit verdient Lidl im Zweifel aber mehr als mit den Nicht-Bio-Käufern.

Kommet, ihr Flexitarier …

Freilich hat Bio im Discounter zwischenzeitlich einen mächtigen Konkurrenten bekommen: seinen alten Kumpel Veggie. Der scheint sich im Handel gerade zu dem zu entwickeln, was Bio auch gerne wäre – ein Massenphänomen.

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Laut GfK lagen die Umsätze mit “Fleischersatzprodukten” und pflanzlichen Brotaufstrichen 2015 bei 310,7 Millionen Euro (Quelle). Das ist zwar nichts, weswegen sich die Fleischindustrie Sorgen machen müsste, durch den Wolf gedreht zu werden. Aber halt eine Größenordnung, die der klassische Lebensmittelhandel nicht ignorieren kann. Zumal die Umsatzsteigerung im Vergleich zum Vorjahr bei beachtlichen 31,5 Prozent lag.

Die GfK weiß auch, wer dafür verantwortlich ist: Gar nicht in erster Linie diejenigen, die sich komplett vegetarisch ernähren. Sondern eher die “Flexitarier”, die weniger Fleisch essen (wollen) und deshalb ab und zu ihr Schnitzel aus Lupinen statt aus Schwein kaufen. Im Zweifel am liebsten dort, wo sie sowieso einkaufen. (In der Altersgruppe der über 70-Jährigen hat die GfK z.B. 52 Prozent Flexitarier ermittelt.)

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Das könnte auch erklären, warum sich Netto (ohne Hund) gerade als erster deutscher Discounter ein kleines Sortiment an explizit veganen Lebensmitteln zulegt. Für “über 50” Produkte wirbt die Kette aktuell in Broschüren (“Vegan? Na klar! Probieren Sie es aus”), und das ist natürlich im Vergleich zu den rund viereinhalb tausend Artikeln im Laden – nix.

Aber völlig ausreichend, um Flexitarier neugierig zu machen und den Konkurrenten Aldi und Lidl wieder ein Stück voraus zu sein.

… oh kommet doch all!

Dafür nutzt Netto (ohne Hund) offensichtlich die Beziehungen des Mutterkonzerns Edeka mit dem Berliner Großhändler, Supermarkt-Betreiber und Eigenmarken-Produzenten Veganz, die sich schon länger ganz gut verstehen. Bestätigen mag Netto (ohne Hund) eine direkte Kooperation auf Supermarkt-Anfrage nicht. Ob die veganen Artikel dauerhaft ins Sortiment aufgenommen werden und in welchen Läden sie verfügbar sind, sagt eine Unternehmenssprecherin auch nicht, erklärt lediglich:

“Seit einigen Jahren beobachten wir eine stetig wachsende Nachfrage nach vegetarischen und veganen Artikeln – insbesondere in den Ballungsgebieten. Diese Entwicklung nimmt Einfluss auf unsere Sortimentsplanung.”

Im Netto-(ohne Hund)-Online-Shop sind die veganen Produkte verfügbar; der Veganz-Filialfinder listet bislang vor allem Filialen in Berlin (52) und im Südwesten Deutschlands auf (u.a. in Frankfurt, Mainz/Wiesbaden, Kaiserslautern, Saarbrücken, Mannheim, Heidelberg, Heilbronn, Karlsruhe).

Und die Präsentation im Laden deutet darauf hin, dass sich der Discounter einen Erfolg wünscht. In einem Berliner Markt belegen vegane Schokolade, Sojaschnetzel und Chiasamen jedenfalls das prominenteste Regalende im ganzen Laden (siehe auch Foto oben), auf das alle Kunden zusteuern, wenn sie aus der Obst- und Gemüseabteilung kommen (und sich nicht vom Angebots-Sekt ablenken lassen, der sich gleich daneben an sie ranwanzt).

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Im Kühlregal ist die Vegan-Auswahl, sagen wir: überschaubar, allerdings auffällig mit gelben Bannern separat gekennzeichnet.

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Diese Ehre teilen sich die veganen Lockartikel – in diesem Fall – kurioserweise mit den nicht-veganen Lockartikeln, den seit diesem Juli erhältlichen “Käsespezialitäten”: also frisch abgepacktem Käse, mit dem Netto (ohne Hund) seine eigene Supermarktigkeit weiter vorantreibt. Auf Anfrage heißt es, die “Käsespezialitäten” würden in einem “Großteil unserer Filialen (ca. 3.900)” verkauft; bei “positiver Kundenresonanz” wolle man sie dauerhaft anbieten. Lieferant ist dem Strichcode auf der Packung zufolge u.a. Leerdamer/Bel.

Die Eigenmarke BioBio hingegen müssen die Kunden im Regal schon selbst finden, Banner-Unterstützung gibt’s schon lange nicht mehr. Immerhin kriegen die zwischen die konventionellen Produkte sortierten Lebensmittel gerade wieder knalligere Packungsdesigns verpasst, um aufzufallen. [Supermarktblog-Leserin @Muyserin hat’s zuerst gemerkt!]

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Sollten wiederum die veganen Artikel bei Netto (ohne Hund) tatsächlich zum Erfolg werden, wäre Veganz-Gründer Jan Bredack seinem erklärten Ziel ein großes Stück näher gekommen: vegane Lebensmittel einer möglichst breiten Masse leicht zugänglich zu machen. Ob sich Veganz selbst damit auf Dauer einen Gefallen tut, ist eine andere Frage. Weil sich die Marke damit auch den spezifischen Regeln unterwirft, die im Discount gelten.

Netto (ohne Hund) jedenfalls weist Veganz-Produkte prompt zum “Dauertiefpreis” aus – und bietet einige davon tatsächlich bis zu 20 Cent günstiger an als Veganz in seinem eigenen Online-Shop.

Womöglich lässt sich das für Veganz verschmerzen, so lange alle, die eine breitere Auswahl haben wollen, weiter in die eigenen Läden kommen oder online bestellen. Selbstverständlich davon ausgehen lässt sich aber nicht (mehr). Ausgerechnet im Münchner Glockenbachviertel schließt Veganz Ende dieser Woche seinen Laden, weil nicht genug Kunden kamen. Die “Süddeutsche Zeitung” hat beim Unternehmen eine “ungünstige Lage mit einer schlechten Nahverkehrsanbindung” als Grund erfragt und referiert anschließend genüsslich die umliegenden Bushaltestellen samt Verkehrsmitteltaktung.

Schwächt Veganz die eigenen Läden?

Das Beispiel lässt sich schwer generalisieren, aber es deutet an, dass die Veganz-Läden als Pilgerstätte womöglich an Attraktivität verlieren, wenn sich Lebensmittelausprobierer auch im örtlichen Supermarkt bedienen können.

Für die Supermarkt-Partner, die Bredack zahlreich für den Vertrieb seiner veganen Produkte gewinnen konnte, ist es wiederum keine gute Nachricht, dass jetzt auch Netto (ohne Hund) mitmischt und das Preisniveau der Lebensmittel neu definiert. Zumal sich mindestens dm herausgefordert fühlen dürfte, dieselben Niedrigpreise anzubieten.

Vermutlich wissen wir deswegen bald, ob sich vegane Lebensmittel im klassischen Handel tatsächlich als Umsatzbringer eignen. Oder ob sie vielleicht bloß mit Bio um die besten Nische für Vielausgeber konkurrieren.

Mit Dank an @Slaydnr und @Muyserin für die Hinweise.

Fotos: Supermarktblog

Der Beitrag Warum Netto (ohne Hund) Teilzeit-Veganer wird und Lidl Aktions-Bio testet erschien zuerst auf Supermarktblog.


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